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Full text of "Homer als Kenner der Natur und treuer Darsteller [microform]"

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1882.    Progr.  Nr.  327. 


Suc^bruderet  üon  ©uftaö  53u6  in  öagen. 
1882. 


Homer  als  Kenner  der  Natur  und  treuer  Darsteller. 

Herrn  Professor  Dr.  G.  F.  Rettig  in  Bern. 

Es  soll  zwar,  mein  hochverehrter  und  teurer  Freund,  nicht  so  ganz  ungewöhnlich  sein,  dass 
Philologen  Abhandlungen,  ja  selbst  dicke  Bücher  schreiben,  welche  mit  der  Überschrift  oder  dem  Titel 
nicht  das  geringste  zu  thun  haben;  wenn  es  nötig  wäre.  Dir  ein  Beispiel  zu  geben,  so  würde  ich  an  jene 
Lehrbücher  der  Metrik  erinnern,  die  über  nichts  als  über  Gruppierungen  langer  und  kurzer  Silben  handaln, 
denen  sie  wissenschaftlich  klingende  Namen  geben :  doch  aber  magst  Du  Dich  wundern,  auch  von  mir  eine 
Schrift  zu  Gesicht  zu  bekommen,  in  welcher  das  Verhältnis  nicht  viel  anders  ist.  So  höre  denn  meine 
Entschuldigung.  Als  ich  mich  dem  Herrn  Direktor  unserer  Doppel-Anstalt  gegenüber  bereit  erklärte,  ein 
Programm  zu  schreiben,  und  als  Titel  den  obigen  angab :  da  befand  ich  mich  in  dem  Glauben,  dass  etwa 
10  oder  12  Quartblätter,  auf  welchen  ich  einige  hundert  Bemerkungen  und  Zitate  über  Homer  niedergelegt 
hatte,  in  meinen  Händen  wären.  Aber  diese  ungewöhnliche  Art  des  Schreibmaterials  —  denn  zu  meinen 
bis  jetzt  erschienenen  umfangreichen  Werken  hatte  ich  in  einer  Reihe  von  Jahren  den  Stoflf  in  gut  gebun- 
denen Folianten  und  Quartanten  niedergelegt.,  und  ähnlich  habe  ich  es  mit  denjenigen  Werken  gemacht, 
welche  ich  noch  veröffentlichen  könnte,  wenn  ich  Lust  hätte,  wieder  ein  Dutzend  Jahre  täglich  bis  nachts 
um  12  oder  1  zu  arbeiten  — ,  ich  sage:  diese  unordentliche  Art  der  Aufbewahrung  hat  den  Verlust  jener 
Blätter  bei  meinem  Umzüge  von  Wismar  hierher  nach  sich  gezogen.  Ich  würde  nun,  wollte  ich  vier 
Wochen  lang  Homer  zu  dem  Zwecke  wieder  durchlesen,  ganz  leicht  das  Material  wieder  herstellen  können, 
doch  dies  gehört  eben  auch  zu  meinen  Eigentümlichkeiten,  dass  ich  mich  nicht  überwinden  kann,  zum 
Zwecke  von  Abhandlungen  u.  dgl.  irgend  etwas  zu  lesen :  es  muss  mir  bei  dem  Lesen  der  Schriftsteller 
ganz  von  selbst  ein  Material  erwachsen,  indem  ich  mir  aufzeichne,  was  das  Verständnis  zu  fördern  scheint. 

Somit  gebe  ich  denn,  da  ich  den  an  der  Zentralstelle  bereits  angezeigten  Titel  der  Abhandlung 
nicht  mehr  ändern  kann,  hier  nur  eine  Sammlung  von  Betrachtungen  über  Homer,  ohne  gelehrten  Schutt 
hinzuzuhäufen.  Denn,  was  Dir  gegeben  ist,  auch  in  den  kleinsten  Abhandlungen,  wie  in  Deinen  Universi- 
täts-Programmen, zugleich  gelehrt  und  geistreich  zu  bleiben :  dies  würde  ich  mir,  als  eine  mir  fremde 
Gabe,  nicht  aneignen  können.  Ich  habe  eben  für  die  grösseren  Werke  ausschliesslich  jene  Materialien 
geglaubt  verwerten  zu  müssen,  und  dagegen  auch  in  jenem  Programme  „zur  Sprachgeschichte"  einen  rein 
volkstümlichen  Ton  angeschlagen,  und  nicht  gewusst,  wie  ich  damit  ein  grösseres  gelehrtes  Material 
vereinen  könnte. 

Möge  aber  dieser  kleine  flüchtige  Versuch  doch  nicht  ganz  Deines  Beifalles  entbehren,  der  mich 
für  manche  schwere  Benachteiligung  zu  trösten  pflegt!  Ich  will  nur  ein  par  Gedanken  über  Homer  aus- 
sprechen, und  dazu  fast  nur  einige  Stellen  namentlich  aus  meiner  griechischen  Synonymik  zitieren,  welche 
zeigen  sollen,  wie  dies  Buch  zum  Verständnis  des  grössten  aller  Dichter  anzuwenden  sei. 


1. 

Das  ganze  Altertum  kannte  Homer  als  den  grossen  und  genialen  Dichter,  der  in  zwei  fast  gleich 
hoch  stehenden  Epen  nicht  nur  die  heroische  Zeit  lebendig  und  treu  geschildert  hatte,  sondern  in  eben 
denselben  grossen  Gedichten  die  unübertroffenen  Muster  vollendeter  Einheiten  gegeben  hatte.  Ebenso 
erkannte  man  ihn  als  den  treuen  Schilderer  der  Natur  und  den  vollendetsten  Menschenkenner. 


Nan  entsteht  die  Frage,  wie  es  in  der  Neuzeit  möglich  war,  dass  man  in  jenen  Gedichten  nichts 
als  lockere  Konglomerate  arsprtlnglich  fflr  sich  bestehender  Teile  and  Teilchen  erkannte  and  den  grossen 
Dichter  ganz  vergass,  ja  ihn  fttr  ein  märchenhaftes  Wesen,  welches  nie  lebte,  erklärte? 

Dass  jene  von  F.  A.  Wolff  aasgegangene  Liedertheorie  aaf  lauter  ScheingrOnden  sich  stützt, 
ist  in  neuerer  Zeit  so  glänzend  und  schlagend  bewiesen  worden,  dass  nur  diejenigen,  welche  aas  freien 
Stocken  ihre  Augen  zuschliessen,  dies  nicht  anerkennen  können.  Denn,  um  nur  an  einige  der  vorztlg- 
lichsten  Leistungen  unserer  Zeit  za  erinnern :  so  hat  zuerst  E.  Kammer  in  seinem  schönen  Buche  «d  i  e 
Einheit  der  Odyssee"  gezeigt,  dass  jene  künstlichen  Zerlegungen  der  Lachmannschen  Schule,  wo  man 
die  Taschenuhr  vor  Angen  den  genialen  Dichter  auf  die  Genauigkeit  seiner  Zeitangaben  u.  dgl.  in  dem 
grossen  Märchen  von  der  Heimkehr  des  Odysseus  prüft,  auf  gänzlicher  Yerkennung  des  Wesens  einer 
epischen  Dichtung  beruhen.  Es  hat  sodann  A.  Römer  jedem  Urteilsfähigen  die  Angen  geöffnet  über  jene 
barbarische  „Peppmüllerei",  nach  welcher  ein  so  kostbares  Buch  wie  das  vierandzwanzigste  der  Iliade,  in 
welcher  der  Dichter  uns  bis  in  innerster  Seele  ergreift,  aus  lauter  kleinen  Versflicken  und  Fetzen 
künstlich  zusammengestückt  sein  soll.  Denn  dass  jede  menschliche  Hede  und  Daretellung  aus  einzelnen 
Worten  und  Redewendungen  besteht,  wollte  man  nicht  beweisen :  sondern  man  dachte  an  einen  kläglichen 
Versmacher,  der  aus  lauter  anderswoher  entlehnten  Versstücken  den  herrlichen  Gesang  zusammenkleisterte. 
Und  wenn  noch  irgend  ein  Beweis  vermisst  wurde,  so  hat  ihn  R.  V  o  1  k  m  a  n  n  in  seinem  herrlichen  Buche 
„Geschichte  und  Kritik  der  Wolffschen  Prolegomena"  gegeben.  Aber  die  Waffen  des  Geistes  genügten 
durchaus  nicht,  die  Ehre  des  Dichters  wieder  herzustellen,  da  eine  redegewandte  Sophistik  überall  mit 
Scheingründen  abzuwehren  wusste,  und  leider  so  wenige  das  Altertum  aus  wirklich  innerer  Neigung  heraus 
studieren,  und  jetzt  mehr  Grammatik  und  Etymologie  getrieben  wird,  als  dass  man  sich  in  den  Geist  der 
grossen  Schriftsteller  und  ihrer  grossen  Zeit  versenkt.  Es  musste  ein  Mann  wie  Heinr.  Schliemann 
erst  jene  Phantastereien  zerstören,  indem  er  an  den  klassischen  Orten  mit  Schaufel  und  Spaten  dasjenige  Ver- 
ständnis eröffnete,  welches  den  Stubengelehrten  leider  ganz  abhanden  gekommen  scheint.  Und  wenn  man  auch  noch 
hie  und  da  sich  nicht  entblödet,  den  grossen  Forscher  anzugreifen,  welcher  der  Eitelkeit  so  vieler  Geister 
dritten  und  vierten  Ranges  im  Wege  steht;  gerade  wie  man  noch  immer  ängstlich  bemüht  ist,  von  stuben- 
philologischer Seite,  durch  völlige  Nicht-Erwähnung  die  naturgeschichtlichen  und  geographischen  Forschungen 
eines  Ernst  von  Bär,  durch  welche  der  Schauplatz  der  Odyssee  sich  vollkommen  aufgehellt  hat  und 
auch  auf  diesem  Gebiete  dem  Dichter  seine  Einheit  zurückgegeben  ist :  so  viel  ist  dennoch  gewiss,  die 
sonnenklaren  Thatsacben,  welche  jene  Forscher  geliefert  haben,  werden  dem  heranwachsenden  Geschlechte 
nicht  mehr  verborgen  gehalten  werden  können,  und  sie  werden  endlich  einen  grossen  Umschwung  in  unserer 
Anschauung  erzeugen. 


2. 

Aber  doch  ist  es  ganz  natürlich,  dass  in  jetziger  Zeit  Homer  der  grossen  Mehrzahl  derer,  welche 
ihn  lesen  oder  lesein  —  man  verzeihe  eine  Neubildung,  die  sehr  bezeichnend  sein  würde  —  als  ein  loses 
Trümmerwerk  erscheinen  muss. 

Da  ist  zunächt  ein  äusserer  Grund:  die  Art  wie  unsere  Ausgaben  Homers 
gedruckt  sind.  Ich  denke  irgendwo  in  den  „Wissenschaftlichen  Monatsheften"  eine  Vorstellung  von 
der  Kompositions-Art  Homers  gegeben  zu  haben.  Möge  eine  kurze  Hindeutung  über  den  Gegenstand 
hier  genügen. 

Betrachten  wir  nämlich  jene  Gesänge,  aus  denen  z.  B.  die  Iliade  zusammengesetzt  ist:  so  finden 
wir  in  ihnen  vollendete  Einheiten,  eine  natürlich  entwickelte  und  in  allen  ihren  Teilen  wohlbegründete 
(motivierte)  Handlang,  die  wie  ein  einzelnes  Drama  kunstgerecht  in  sich  abgerundet  ist,  und  deshalb  auch 
unsere  Aufmerksamkeit  und  gemütliche  Teilnahme  von  Anfang  an  fesselt  und  am  Schlüsse  in  herrlichster 
Weise  befriedigt.  Freilich,  wir  fühlen  doch  wieder,  dass  neue  Ereignisse  sich  anreihen  müssen,  um 
manchen  neu  geschürzten  Knoten  zu  lösen,  gerade  wie  der  Dichter  des  Gesanges  schon  an  dessen  Anfange 


voraussetzt,  dass  wir  mit  dem  Inhalt  der  vorhergehenden  Gesänge  bekannt  sind.  Denn  alle  jene  Gesänge 
hängen  so  innig  anter  einander  zusammen,  dass  die  ganze  Iliade  doch  eine  Einheit  ist,  wie  nie  eine  zweite 
wird  gedichtet  werden :  so  innig  nnd  fest,  so  unübertrefflich  vom  Anfange  bis  zum  Schlüsse  hin  entwickelt. 
Wer  einmal  mit  Gefühl  und  Verständnis  gelesen  hat,  der  wird  mich  verstehn.  Aber  ein  Beispiel  möge 
die  Sache  erläutern. 

"Wenn  man  die  „Heldenthaten  des  Diomedes"  (sogenanntes  5.  Buch)  liest,  so  kann  einem  nicht 
entgehen,  wie  gerade  die  Thaten  der  übrigen  Helden  den  lichten  Untergrund  für  die  des  Diomedes  bilden 
müssen,  und  wie  die  Handlung  immer  mehr  gesteigert  wird,  bis  wir  durch  den  milden,  fast  heiteren  Schiuss 
des  Gesanges,  nämlich  durch  jene  Szene  im  Himmel,  in  die  richtige  Stimmung  versetzt  werden,  um  jenes 
schöne  Familienbild  voll  empfinden  zu  können,  welches  uns  in  dem  folgenden  Gesänge,  genannt  «Zusammen- 
kunft des  Hektor  und  der  Andromache"  entfaltet  wird.  Und  der  erste  Teil  wiederum  dieses  Gesanges 
bildet  eine  Vorbereitung,  sinniger  und  schöner ,  wie  sie  gar  nicht  gedacht  werden  kann.  Ich  meine  zuerst 
die  Szene  zwischen  Diomedes  und  dem  Glaukos,  durch  welche  wir  dem  bisherigen  Kriegstumulte  entrückt 
werden  und  zu  einer  ruhigen  Stimmung  und  inneren  Sammlung  gelangen.  Dann  aber  folgt  erst  die  Szene 
im  Hause  des  Paris,  wo  der  üppige,  fast  orientalische  Königssohn,  zwar  auch  unter  Umständen  ein  tapferer 
Streiter,  aber  unzuverlässig  in  seinem  ganzen  Wesen,  ein  unübertreffliches  Gegenbild  zu  dem  idealen  Hektor 
bildet.  Sein  eigenes,  geraubtes  Weib  achtet  ihn  nur  gering,  blickt  aber  mit  höchster  Verehrung  za  dem 
Vorbilde  aller  Verteidiger  des  Vaterlandes,  zu  Hektor  empor.  Und  nach  dieser  Szene  erst  tritt  Hektor 
in  sein  eigenes  Haus,  empfangen  von  einem  ihn  zärtlich  und  eben  so  hoch  verehrenden  Weibe,  und  er,  der 
schreckliche  Krieger,  ist  zugleich  der  sanfte  Gatte  und  Vater,  der  das  kleine  Büblein  auf  dem  Arme  wiegt, 
nachdem  er  den  schrecklichen  Helm  abgelegt.  Welche  herrliche  Entgegenstellung,  und  wie  menschlich 
schön  empfunden  und  mit  vollster  Seelenkenntnis  gezeichnet.  Wir  erblicken  da  zwei  Familien  wie  sie 
immer  sein  werden,  so  lange  es  Menschen  gibt.  In  der  einen  gibt's  nur  gegenseitige  Liebe,  da  der  Mann 
das  Muster  treuster  Pflichterfüllung  ist,  und  zugleich  der  unübertroffene  Held,  der  jedem  Achtung  abzwingt, 
und  zumal  dem  weiblichen  Geschlechte,  welches  ein  so  .feines  Gefühl  hierfür  hat.  Im  anderen  Hause 
herrscht  das  Weib  über  einen  Mann,  der  diese  Knechtschaft  verdient.  —  Aber,  ich  komme  von  der  Sache 
ab:  Wie  diese  zwei  Gesänge  jeder  für  sich  eine  herrliche  Einheit  ist,  und  doch  beide  auf  das  innigste 
zusammengehören,  indem  der  erste  zugleich  als  Vorbereitung  auf  den  zweiten  erscheint:  so  unübertrefflich 
schön  ist  die  ganze  Iliade  gegliedert. 

Aber  auch  die  grossen  Gesänge  bestehn  wieder  aus  kleineren  wohl  in  sich  abgerundeten  Einheiten, 
welche  man  als  die  S  z  e  n  e  n  der  erwähnten  kleineren  Dramen  betrachten  kann.  So  ist  z.  B.  in  dem 
„Diomedesgesang"  die  Partie  II.  5,  35—83  eine  prächtig  gegliederte  Ballade;  nur  dass  man  nicht  sich 
allen  Genuss  verderben  darf,  indem  man  gleiche  Verszahlen  für  die  Strophen  (die  ja  nicht  in  bestimmter 
Melodie  gesungen  wurden)  herauszuklauben  sucht.  Die  Schlüsse  jener  Strophen  haben  ganz  die  Eigentüm- 
lichkeit der  Refrains  und  bringen  daher  ungemeines  Leben  in  das  Ganze.    Ich  meine 

rifiiKt  8'  ii  hyiuiv,  otUY^pö?  8'  apa  /iiv   axöto;  eiXsv.   — 
YjptTts  3J:  jcprjVYjC,  öcpdßTjOe  Se  t£U)(s'  sjt'  aötü).   — 
fwi  8'  eptrt'  o'.jxwlac,  ^ävato;  3e  ja'.v  ä/i'fsxdtXu'^EV.   — 
Tjp'.ite  o'  £v  xovi-jj,  '^oj^pöv  3'  iXe  joikv-bv  öSoöotv.   — 
eXXaßs  Tcop'^'jpEoi;  ^dcvaxoi;  xai  jAOIpa  xpatai-rj.    — 

Ueber  die  Bedeutung  solcher  Schlüsse  in  griechischen  Gedichten  kann  man  alle  Aufklärung  aus  dem  vierten 
Bande  meiner  Kunstformen,  Seite  603  u.  f.  erhalten. 

Nun  also,  wie  sind  diese  Verhältnisse  in  unsem  Textausgaben  ausgedrückt?  Man  hat  die  ganze 
Iliade  in  24  Bücher  zerlegt,  und  drückt  jedes  dieser  Bücher  als  einen  Brei  fort,  nur  hin  und  wieder 
einen  Vers  einrückend,  um  eben  auch  die  kleinen  Bruchstücke  der  Grütze  kenntlich  zu  machen.  Und  ein 
sehr  grosser  Teil  dieser  Einrückungen  ist  obendrein,  einer  beliebten  aber  jammerschlechten  Schablone  zu 
Liebe,  an  ganz  falschen  Stellen.  Kann  man  nun  mit  Gefühl  und  Verständnis  lesen?  Nein,  und  tausendmal 
nein!  Wenn  man  Schillers  Teil  oder  irgend  ein  anderes  Drama  so  drucken  wollte,  mit  fortlaufenden  Versen, 


ohne  irgend  eine  Unterscheidung  der  Akte  and  Szenen :  so  würde  niemand  sie  mit  Genoss  and  Verständnis 
lesen  können,  da  man  eben  nicht  beim  Lesen  die  nötigen  Rahepankte  and  Übersichtspankte  gewinnen 
könnte.    Mit  einem  Worte:   man  würde  aach  hier  za  einer  Stubengelehrten  Empfindungslosigkeit  gelangen. 

Es  ist  doch  ein  Jammer,  dass  man  nicht  aufhört  Kommentare  za  schreiben  and  gelehrte 
Forschungen  zu  veröffentlichen,  ohne  an  jenes  Haupterfordernis  zu  denken.  So  bin  ich  auch  hier  in  der 
Lage  gewesen,  um  selbst  den  Homer  innerlich  empfinden  zu  lernen  —  denn  mit  grammatischen  Formeln 
and  etymologischen  Aufstellungen  ist  blutwenig  gewonnen  —  zunächst  an  eine  Abschrift  der  Iliade  zu  gehn. 
Da  stehn  nun  jene  Gesänge  als  die  grossen  Akte,  jeder  mit  voller  Seite  beginnend,  jeder  durch  einen  roten 
grossen  Anfangsbuchstaben  geschmückt;  und  jede  Szene  beginnt  mit  einem  Zwischenraum  von  gegen  zwei 
Zeilen  und  hat  ihren  grossen  dicken  schwarzen  Anfangsbuchstaben.  Und  wenn  ich  beliebig  blättere,  so 
kann  ich  jede  leicht  kennbare  Szene  als  ein  schönes  Ganze  für  sich  lesen,  und  so  vordringen  bis  zum  Ver- 
ständnis der  grösseren  Einheiten  und  schliesslich  der  ganzen  Einheit. 

Das  nun  ist  ohne  irgend  eine  auflösende  Kritik.  Aber  würde  irgend  ein  Verleger  ein  solches 
Buch  drucken?  Ich  denke  nicht  daran,  es  anzubieten.  Denn  das  Buch  soll  ja  nur  den  höchsten  Genuss, 
das  höchste  Verständnis  eines  grossen  Dichters  geben,  und  keine  neuen  Etymologien  und  grammatischen 
Kleinigkeiten  und  Spitzfindigkeiten. 


3. 

Der  innere  Grund  für  jene  Theorien  ist  offenbar. 

Unsere  Zeit  ist  eine  auflösende  und  zergliedernde,  die  immer  mehr  das  Verständnis  für  die  grossen 
Einheiten  verloren  hat.  Denken  wir  nur  an  die  naturgeschichtliche  Philosophie,  die  von  ganz  materiellen 
Grundlagen  aufgebaut  wird.  Es  ist  da  sehr  viele  Wahrscheinlichkeit,  ja  oft  auch  Offensichtlicbkeit.  Wer 
sollte  nicht  mit  Bewunderung  erfüllt  werden  für  die  Fortschritte  der  Sternkuade,  der  Naturkunde,  Chemie, 
Geognosie,  Geologie  ?  Aber  wie  steht  es  mit  den  Schlussfolgerungen,  welche  die  ganz  materialistischen 
Forscher  ziehn?  Sie  sind  aufgebaut  auf  unendlichen  Reihen  von  Thatsachen  —  mit  gänzlicher  Weglassung 
alles  dessen  was  den  Herrn  nicht  in  ihren  Kram  passt;  und  diese  Thatsachen  sind  von  einem  durchaus 
einseitigen  Standpunkt  aus  gewonnen. 

Nun  ist  es  z.  ß.  ganz  richtig,  dass  der  menschliche  Körper  aus  Kohlenstoff,  Stickstoff,  Sauerstoff, 
Wasserstoff,  Kalk,  Eisen  u.  s.  w.  aufgebaut  ist.  Aber  ist  das  nicht  auch  ein  Haufen  Mist?  Wer  den 
Menschen  als  Atome  und  Zellen  auffasst,  sagt  ja  nichts  Falsches,  aber  er  sagt  etwas,  was  mit  der  Sache 
gar  nichts  zu  thun  hat.  Und  manche  der  scharf  ausgebildeten  Systeme,  z.  B.  das  von  G.  Jäger,  in  welchem 
die  menschliche  Seele  lediglich  als  ein  Riechstoff  aufgefasst  wird,  sind  der  grösste  Blödsinn,  der  je  von 
einem  Menschen  ausgesprochen  ist.  Ebenso  steht  es  mit  jenen  fanatischen  „Forschungen"  Büchners,  in 
denen  er  z.  B.,  wie  in  seinem  Werke  über  das  Tierleben  den  Gedanken  verficht,  dass  die  Ameisen  gar  zu 
viel  klüger  und  gar  zu  viel  moralischer  seien  als  die  Menschen.  Und  noch  viel  mehr,  jene  Unglück- 
seligen, welche  Gott  aus  der  Welt  leugnen,  setzen  an  seine  Stelle  eine  gradezu  endlose  Reihe  völlig 
undenkbarer  Hypothesen.  " 

Mit  solchen  Anschauungen  nun,  denn  angesteckt  sind  wir  alle  mehr  oder  weniger  von  der  zer- 
setzenden materialistischen  Philosophie  der  Jetztzeit,  treten  wir  an  das  „Studium"  des  grossen  Dichters 
hinan.  Da  suchen  wir  die  Zellen,  ja  die  Atome,  woraus  der  Körper  seiner  grossen  Gedichte  besteht,  — 
und  finden  natürlich  dieselben  kleinen  Bröckel,  aus  denen  jedes  menschliche  Geistesprodukt  besteht  oder 
zu  bestehen  scheint,  während  wir  das  Ganze  nicht  finden  können.  Wir  sehen  eben  den  Wald  vor  lauter 
Bäumen  nicht. 

Selbst  K.  L  e  h  r  s  konnte  sich  von  diesen  Anschauungen  nicht  frei  machen ;  ja,  als  ich  einmal 
in  einer  Abhandlung  auf  Homer  als  den  bestimmten  Schriftsteller  zu  sprechen  kam,  da  zeigte  er  in 
einem  seiner  immer  so  liebenswürdigen  Briefe  sich  fast  betrübt,  dass  „auch  ich"  an  einen  schreibenden 
Homer  dächte.    Und  so  auch  schrieb  mir  G.  F.  R  e  1 1  i  g ,  der  geniale  Erforscher  namentlich  der  sokratischen 


Philosophie,  noch  kürzlich;  ^Deinem  Homerprogramme  sehe  ich  mit  Spannung  entgegen;  es  hat  auch  mich 

Mühe  gekostet,  mich  aus  der  zersetzenden  Kritik  herauszuarbeiten Wenn  Euphorbos  und  Hektor 

den  Patroklos  töten,  ist  das  in  ainem  Märchen  so  auffallend?  Wenn  es  nur  erstaunlich  und  schön  ist  und 
den  Leser  fesselt,  so  fragt  der  in  dem  märchenhaften  Epos  nicht  lange,  ist  das  Erzählte  auch  dem  Ver- 
stände gemäss,  sondern  er  gibt  sich,  gleichsam  in  eine  andere  Welt  versetzt,  ganz  der  Erzählung  hin,  und 
geniesst  ihre  Wunder," 


Alle  jene  Einzelheiten,  womit  die  Zerbiöckler  Homers  ihre  Annahmen  stützen  wollen  zeugen 
für  nichts  als  für  eine  ganz  merkwürdige  moderne  Befangenheit  und  für  eine  wunderbare  Unkenntnis  der 
offenbarsten  Thatsachen.  Ich  will  nur  einige  Punkte  herausgreifen,  welche  in  den  oben  genannten  Werken 
nicht  erledigt  sind,  die  aber  ganz  in  dem  Gebiete  meiner  Forschungen  liegen. 

Man  spricht  ron  der  Buntscheckigkeit  der  Homerischen  Sprache  und  den  ganz  verschiedenen 
Formen,  welche  auf  weit  auseinanderliegende  Zeitalter  zu  deuten  scheinen.  —  Da  ist  zuerst  das  Digamma, 
das  bald  erscheint,  bald  iu  demselben  Worte  fehlt.  Hätte  irgend  einer  der  Gelehrten,  welche  Langes  und 
Breites  hierüber  geschrieben  haben,  sich  einmal  sorgfältig  prüfend  die  Pindarischen  Gesänge  angesehn,  so 
hätte  er  in  diesen  Erscheinungen  jene  Gesetze  des  Wohllauts  erkennen  müssen,  die  ich  im  vierten  Bande 
meiner  Kunstformen  unwiderleglich  nachgewiesen  habe.  Nicht  einmal  die  modernen  Sprachen  haben  jene 
Einförmigkeit  der  Aussprache,  wie  sehr  auch  die  Schulmeister  seit  Jahrhunderten  sich  bemüht  haben  sie 
herzustellen.  Man  denke  nur  an  die  so  verschiedene  Aussprache  französischer  Wörter  am  Ende,  je  nach- 
dem ein  Vokal  oder  Konsonant  folgt. 

Aber  weiter.  Die  gänzlich  modern-deutsche  Aussprache,  womit  wir  die  griechische  Sprache  miss- 
handeln, stellt  lediglich  in  unserer  Schulpraxis  und  unserm  eigenen  Vortrage  schneidende  Unterschiede  her, 
welche  es  gar  nicht  in  der  alten  Sprache  gibt. 

Ich  will  nur  an  eine  Einzelheit  erinnern,  die  Aussprache  der  Diphthonge.  Im  mustergültigen 
Hochdeutschen  giebt  es  nur  drei  Doppellauter,  nämlich  au,  ay,  ai.  Aber  statt  ay  (d.  h.  aü)  schreiben  wir 
fälschlich  eu  oder  äu,  z.  B.  heute,  Bäume,  ausgesprochen  hayte,  bayme.  Ebenso  schreiben  wir  für  ai  in 
den  meisten  Fällen  ganz  falsch  ei,  z.  ß.  in  den  Wörtern  ein,  zwei,  drei,  gesprochen:  ain,  tsvai,  drai. 

Und  nun  höre  man  genau  zu!  Weil  wir  also  das  Neuhochdeutsche  ganz  falsch  schreiben,  nämlich 
ungefähr  so  wie  es  vor  500  Jahren  gesprochen  wurde:  deshalb  glauben  wir  das  Altgriechische  nach  der 
jetzigen  hochdeutschen  ganz  falschen  Schreibweise  aussprechen  zu  müssen??  Wir  sprechen  also  das  Wort 
EUfpwv  —  das  ich  mit  Fleiss  ohne  weitere  Abzeichen  hier  schreibe  —  bei  Homer  bald  ay-fron,  bald 
e-y-fron  aus.  Ja  freilich,  das  kann  ja  gar  kein  Dichter  mehr  sein,  der  ein  Wort  so  misshandelt,  um  nur 
einen  Vers  fertig  zu  bringen:  also  müssen  solche  Verse  mit  grundverschiedener  Aussprache  auch  verschie- 
denen Zeitaltern  angehören !  Denn  könnte  wohl  ein  deutscher  Dichter  bald  hay-te,  bald  he-u-ie  aussprechen, 
je  nachdem  es  in  den  Vers  passte?  Aber  freilich  was  steht  denn  bei  Homer?  Das  eine  Mal  euifptuv,  d,  h 
e-y-fron  dreisilbig;  das  andere  Mal  cu^piuv,  d.  h.  ey-pWön  zweisilbig;  wenn  man  den  Diphthong  also  so 
spricht  wie  er  geschrieben  wird,  d,  h,  ihn  aus  der  schnellen  Zusammensprache  von  e  und  //  (d.  h.  m)  her- 
vorgehn  lässt :  so  wird  man  finden,  dass  ein  kaum  zu  bemerkender  Unterschied  zwischen  beiden  Aussprachen 
herrscht.  Und  so  in  allen  andern  Fällen:  wir  legen  durch  die  grundfalsche  und  ganz  unwissenschaftliche 
Aussprache,  die  wir  leider  von  der  Universität  mitbringen,  und  wohl  auch  unsererseits  wieder  der  armen 
Jugend  künstlich  einpauken,  jene  tollen  Unterschiede  hinein,  die  nirgends  im  Texte  geschrieben  stehn,  die 
uns  dann  aber  wieder   das  Bild   des  Dichters  verdunkeln  und  in  eine  Menge   undeutlicher  Flecke  auflösen. 

Und  soll  ich  noch  von  der  grundfalschen  Aussprache  der  griechischen  Akzente  sprechen,  die  ihrer- 
seits wieder  eine  Menge  unlösbarer  Rätsel  erzeugt?  Und  ein  Philologe,  der  die  ideale  Kenntnis  der  antiken 
Welt  zu  seinem  Ziel  erwählen  sollte,  um  durch  sie  der  modernen  Zerfahrenheit  entgegentreten  zu  können, 
sollte  nicht  die  Mühe  auf  sich  nehmen  wollen,  diejenige  Aussprache  derselben  (die  den  Namen  „Beigesang," 


da0  heisst  npoouidta  oder  accentus,  hatten  aod  als  höhere  and  tiefere  and  doppelte  Noten  schon  durch 
ihre  Namen  onterschieden  werden),  also  diejenige  Aassprache  derselben  sich  anzaeignen,  welche  einstimmig 
▼on  allen  alten  Schriftstellern  anerkannt  wird,  welche  namentlich  genaa  von  Dionysios  von  Halikarnass 
bestimmt  wird;  welche  ferner  an  Stelle  ganz  begriffloser  Namen  reine  and  klare  Vorstellangen  giebt,  die 
scheinbaren  and  angehearen  Unterschiede  zwischen  der  Prosa  and  Poesie  vollkommen  aufhebt,  und  dem 
Schüler  eine  ungeheure  Menge  Arbeit  erspart  und  zugleich  seinen  Kopf  aufbellt,  nicht  aber  seine  Begriffe 
verdunkelt? 


5. 

Aber  wir  wollen  auch  hiervon  einmal  absehn.  Wodurch  ganz  besonders  ist  der  grosse  Dichter 
dem  Verständnis  der  modernen  Gelehrten  entrückt?  Durch  die  über  die  Massen  schlechten  Wörter- 
bücher, welche  wir  für  das  Griechische  überhaupt,  und  so  namentlich  auch  für  Homer  besitzen.  Homer, 
der  stets  so  naturtreu  zeichnet,  dass  er  überall  die  eigene  lebendige  Anschauung,  das  offene  Auge,  das 
feinste  Gehör,  die  schärfste  Beobachtungsgabe  verrät:  eben  derselbe  Homer  wird  zu  einem  elenden  Phrasen- 
drescher darch  unsere  Wörterbücher  gestempelt.  Und  hier  will  ich  denn  das  Geständnis  ablegen,  dass  ich 
meine  grosse  griechische  Synonymik  geschrieben  habe,  weil  mir  das  Herz  blutete  ob  dieser  Misshandlung 
des  grössten  aller  Dichter.  Und  ich  würde  wohl  noch  manchen  Band  in  Bereitschaft  haben,  wenn  ich  noch 
weiter  Leben  und  Gesundheit  durch  so  ungeheure  Anstrengangen,  welche  neben  einem  an  sich  schon 
schweren  Schalberufe  zu  ertragen  wären,  in  Gefahr  bringen  wollte. 

Da  hat  z.  B.  die  neue  Zeit  eine  eigentümliche  Farbentheorie  aufgestellt,  und  man  hat  sich  ver- 
messen, auszusprechen,  ja  sogar  scheinbar  zu  beweisen,  dass  Homer  oder  die  Menschen  seiner  Zeit  allesamt 
farbenblind  waren.  Diese  wegen  ihrer  Scharfsinnigkeit  und  Findigkeit  angestaunten  Philosophen  haben  die 
aller-einfachsten  Beobachtungen  versäumt,  durch  welche  ich  z.  B.  festgestellt  habe,  dass  vier  Wochen  alte 
Küchlein  jede  Farbe  ganz  genau  unterscheiden.  Und  so  muss  denn  der  Urmensch  nicht  bloss  Orang-Utang 
sein:  nein,  er  muss  viel  dummer,  viel  stumpfsinniger  als  junge  Hühner,  als  Bienen,  Spinnen  oder  beliebige 
andere  Tiere  sein!    Ja  freilich,  das  ist  Stubentheorie. 

Denn  zunächst  haben  jene  Menschen  ein  Hauptgesetz  in  der  Entwicklang  aller  sprachlichen  Be- 
deutungen nicht  gekannt :  nämlich  der  Mensch  ist  immer  bemüht,  Begriffe  malerisch 
darzustellen,  indem  er  übertreibende  Bilder  wählt;  und  in  der  weiteren  Ent- 
wicklung der  Sprache  können  diese  Ausdrücke  dann  die  ganz  gewöhnlichen 
werden.  So  nennen  wir  z.  B.  das  hellbraune  Haar  rotes  Haar,  obgleich  es  wahrlich  ein  ganz  erstaun- 
liches sicher  noch  nie  dagewesenes  Wunder  sein  würde,  wenn  ein  Mensch  die  Farbe  einer  frisch  auf- 
gebrochenen Rose  (denn  das  ist  die  wirkliche  rote  Farbe)  in  seinem  Haare  zeigen  würde.  Nun  hat  aach 
Homer  es  ganz  genau  eben  so  gemacht  wie  wir,  er  hat  z.  B.  das  Haar  xuäveoc,  d.  b.  stahlfarbig  genannt. 
Das  soll  nun  mit  einem  Male  ein  Beweis  sein,  dass  er  blau  und  schwarz  nicht  unterscheiden  konnte?  Und 
wenn  wir  das  Haar  ebenso  falsch  „rot"  nennen,  so  zieht  man  auf  unsern  Farbensinn  nicht  dieselben 
Schlüsse?  „Ja  Bauer,  das  ist  ganz  was  anders."  —  Nein,  Homer  war  ein  Mensch  wie  jeder  Chinese,  Neger 
und  Indianer  es  auch  ist,  und  ihm  die  menschliche  Erkenntnis  schlechthin  abzusprechen,  zeugt  gerade  nicht 
von  gut  logischer  Denkungsart! 

Aber  so  ist  nun  jenes  ekelhafte  Gewirr  in  unsern  Wörterbüchern  hinsichtlich  der  Farbenausdrücke, 
das  ich  im  dritten  Bande  der  griech.  Synonymik  habe  aufzulösen  versucht.  Aber  ich  will  doch  noch  ein- 
zelne Gesichtspunkte  erwähnen.  Man  übersetzt  also  itoXi-rjv  SX«  tutctov  IpexiioU  mit  „sie  schlagen  das 
graue  Meer  mit  den  Rudern."  Und  als  Bedeutung  von  koX-.o?  giebt  man  überall  „grau"  an!  Und  doch 
hat  das  Wort  auch  in  keiner  einzigen  Stelle  jemals  die  im  Wörterbach  angegebene  Bedeutung  gehabt. 
Homer  also  drischt  Phrasen,  weil  man  seine  Sprache  nicht  kennt,  nicht  einmal  die  gewöhnlichsten  Wörter! 
Denn  nie  werden  graue  Gegenstände  im  Griechischen  noXio?  genannt,  wie  z.  B.  die  Asche,  die  Maus, 
der  Kranich  ! 


Und  so  werden  die  gewöhnlichsten  Wörter  jetzt  erst  recht  mit  falschen  Bedeatongen  aog^beOf 
seit  die  Etymologie  alle  Köpfe  erfüllt,  eine  Wissenschaft,  die  wahrlich  noch  erst  ganz  anders  za  begrOnden 
wäre  aaf  der  Kenntnis  der  Anscbaaang  der  alten  Völker,  der  geschichtlichen  Entwicklang  der  Bedeatongen 
a.  s.  w.  Nan  aber,  wenn  die  Bachstaben  stimmen,  ist  man  bereits  fertig,  w&hrend  da  erst  das  Stadiam 
angebn  sollte;  and  leider  geben  persische,  sanskritische,  armenische  a.  s.  w.  Zitate  da  immer  den  Schein 
der  Wissenschaftlicbkeit,  während  doch  noch  nicht  eine  einzige  Sprache  wissenschaftlich  ergründet  ist,  nach 
den  Forderungen,  die  ich  in  meiner  Synonymik  aafgestellt  habe.  Ich  habe  solche  F&lle  in  dem  erwähnten 
Werke  zahlreich  nachgewiesen,  and  man  wird  z.  B.  bei  atYiXi4'  eine  Probe  finden,  wohin  dies  ganz 
äasserliche  Probieren  führt. 

Manche  falsche  Auffassungen  kommen  freilich  bereits  aaf  die  klassische  Zeit,  ich  meine  die  des 
Piaton  zarück.  So  z.  B.  wenn  man  schon  damals  'poSoSaxxuXo;  'Hu»;  als  die  „rosenfingrige  Morgenröte" 
aaffasste.  Aber  Homer  hat  ebensowenig  eine  so  wahnsinnige  Vorstellang  von  der  Gestalt  der  Götter,  wie 
die  späteren  Griechen.  Diese  haben  bei  ihm  darchaas  eine  ideal-mensehliche  Gestalt,  and  Sophokles  arteilte 
in  jener  heiteren  Unterhaitang  bei  einem  Gastmale  in  Chios  ganz  richtig,  dass  ein  Maler,  der  die  Finger 
mit  rosenroter  Farbe  gemalt  hätte,  nar  hätte  einen  Parparfärber  abbilden  können.  Und  nan  gar,  wie 
wahnsinnig,  sich  za  denken,  dass  die  schönen  roten  streifenförmig  gelagerten  Wolken  am  Ilimmel  die  un- 
gehearen  Finger  der  Eos  gewesen  wären!  Ich  brauche  wohl  kaum  daran  zu  erinnern,  dass  auch  dann 
wenn  man  nicht  an  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  zur  Wurzel  AlK,  Setxvufic  gehörenden  SdcxtuXoc 
denkt  (eine  Auffassung,  die  übrigens  durch  ein  Bruchstück  des  Alkaios  eine  merkwürdige  Bestätigung 
erhält) :  also  auch  in  diesem  Falle  'poSoSäxtuXo;  nur  mit  plastischer  Lebendigkeit  „Rosen  zeigend",  d.  h.  Rosen 
zur  Erscheinung  bringend,   heissen  kann.    Es  ist  also  die  Göttin,   welche  „den  Himmel  mit  Rosen  besät''. 

Aber  ich  spreche  von  einzelnen  Ausdrücken;  ganze  Schilderungen  und  lang  fortgeführte  Dar- 
stellungen sind  völlig  sinnlos  durch  die  Angaben  unserer  Wörterbücher.  Ich  habe  dies  z.  B.  in  der  Syno- 
nymik gezeigt  bei  jenen  Wörtern,  welche  die  Wörterbücher  alle  gleichmässig  falsch  übersetzen  durch 
klagen,  jammern,  wimmern,  stöhnen,  wehklagen  u.  s.  w.  Wenn  man  nun  die  herrliche  Schilderung  Homers 
liest,  wie  auf  den  Achill eus  die  Nachricht  vom  Tode  des  Patroklos  wirkt,  und  man  vermöge  der  Wörter- 
bücher aus  diesem  jämmerlichen  Gewimmer  und  Geklage  nicht  herauskommt,  nirgend  aber  die  wahren 
Bedeutungen  der  Wörter  findet:  so  muss  man  den  Dichter  für  einen  jämmerlichen  Versflicker  halten,  und 
kann  kaum  zu  einer  Ahnung  kommen,  wie  wundervoll  ergreifend,  ja  die  innerste  Seele  ergreifend,  und  wie 
naturtreu  Homer  jene  Szenen  dargestellt  hat.  Gegen  einen  solchen  Dichterling  verliert  man  denn  auch 
alle  Achtung,  und  mit  seinen  Schöpfungen  denkt  man  ganz  beliebig  spielen  zu  können. 

Denn  hier  erlaube  ich  mir  die  Frage:  Haben  denn  jene  Zerstückler  Homers  auch  nur  den  Sinn 
einer  einzigen  Stelle  wirklich  erhellt,  indem  sie  auf  wissenschaftlichsm  Wege  die  Entwicklung  der  Wort- 
bedeutungen, auf  denen  doch  das  ganze  Verständnis  zuletzt  immer  beruht,  und  diese  selbst  erschlossen? 
Ist  aber  das  nicht  eine  dankbarere  Aufgabe,  als  den  lebendigen  Leib  durch  tausend  schmerzhafte  Schnitte 
zu  zerstören? 


6. 

Und  nun,  in  einzelnen  Beispielen  denke  ich  doch  hinreichend  deutlich  gemacht  zu  haben,  inwiefern 
Homer  ein  Kenner  der  Natur  und  treuer  Darsteller  war.  Er  war  es,  insofern  er  auf  die  Seele  des  Hörers 
zu  wirken  verstand  wie  kein  anderer,  sie  von  Anfang  an  fesselnd,  die  lebhaftesten  Gefühle  in  ihr  erweckend^ 
und  in  der  Gliederung  des  Ganzen  seiner  Epen  die  schönste  befriedigende  Einheit  festhaltend,  so  dass  die 
Seele  die  herrlichste  Befriedigung  darin  finden  muss.  Denn  dieses  kann  nur  ein  wahrer  Menschenkenner, 
und  es  kann  ebensowenig  wie  irgend  etwas  anderes  aus  der  „Kraft  des  Unbewnssten"  kommen.  Er  war 
es  ferner,  insofern  er  eine  vollendet  natürliche  Sprache  redete,  in  dw  nichts  Blindes  und  Unverständliches, 
nichts  Abgeschmacktes  und  Verkehrtes  aufzufinden  ist.  Auch  die  Formen  wählte  er  wirksam  and  schön, 
und  also  ganz  ihrem  Zwecke  angepasst,  so  dass  nur  die  gänzlich  falsche  Aussprache  der  modernen  Völker 


8 

(von  denen  die  modernen  Griechen  beinahe  noch  am  erträglichsten  aassprechen)  diese  Verhältnisse  ver- 
dankein kann. 

Und  nan  will  ich  noch  einen  Punkt  erwähnen,  nämlich  die  6 1  e  i  c  h  n  i  s  s  e.  Sie  sind  vom  Alter- 
tnme  her  berühmt,  weil  sie  erstens  den  genauen  Naturkenner  zeigen,  der  z,  B.  die  Tiere  genau  so  zeichnet, 
wie  sie  sind^  und  ebenso  anschauliche  Darstellungen  von  den  übrigen  Erscheinungen  der  Natur,  wie  nament- 
lich den  meteorologischen  Vorgängen  giebt;  zweitens  aber  immer  Szenerien  angeben,  die  innerlich  wahr 
sind,  und  so  anschaulich  und  klar,  dass  sie  die  packendsten  Gemälde  schon  ohne  den  Pinsel  des  Malers 
Bind.    Ich  will  dies  durch  ein  Beispiel  erläutern. 

U.  11,471.  Den  Odysseus  umdrängen  die  Trojaner  wie  Schakale  um  einen  hochgehörnten  Hirsch 
sich  scharen,  der  im  Waldgebirge  verwundet  ist;  da  erscheint  plötzlich  ein  Löwe,  und  die  Schakale  fahren 
auseinander,  jener  aber  zerreisst  mit  seinen  Tatzen  das  edle  Wild.  So  «"scheint  nun  Aias,  und  es  zer- 
stieben die  Trojaner.  Man  bemerke  hier,  wie  auch  sonst  die  Gleichnisse  Homers  sind:  keine  fortgesetzten 
Parallelen,  sondern  Übereinstimmungen  nur  in  einzelnen  Punkten,  aber  den  wichtigsten  Doch  ganz  genau 
ist  das  Wesen,  die  Lebensart  der  Tiere  gezeichnet,  eine  Szene  ist  gegeben,  wie  sie  gewiss  hin  und  wieder 
ganz  ähnlich  beobachtet  wurde.  Und  nun  das  Malerische  der  ganzen  Darstellung.  Warum  hat  nicht  ein 
Maler  sich  diese  prachtvolle  Idee  angeeignet?  In  der  Mitte  der  rings  von  hohen  Bäumen  beschatteten 
(oxtepö?),  Waldschlucht  der  zusammenbrechende  Körper  eines  Hirsches,  mit  hochragendem  Geweih  (xspaö;); 
darum  gruppiert  die  gierig  schleckernden  Brandwölfe,  denen  zu  allgemeinem  Schrecken  die  riesige  Gestalt 
des  Löwen  auf  den  Leib  rückt,  so  dass  sie,  noch  gieiig  dabei  zum  Aase  zurückblickend,  scheu  sich  duckend 
auseinander  stieben!  —  Und  eben  so  schön  könnte  wiederum  das  andere  Gemälde  werden,  wo  die  Trojaner 
von  der  Heldengestalt  des  Odysseus  scheu  zurückweichen,  als  Aias,  der  hünenhafte  Recke,  plötzlich  erscheint. 

So  eben  sind  sämtliche  Gleichnisse  Homers,  den  Kenner  der  Natur  und  den  geschickten  Maler 
sozusagen  zu  gleicher  Zeit  zeigend.  Wenn  wir  aber  hiermit  manche  der  gefeiertsten  modernen  Dichter 
vergleichen,  so  fällt  dieser  Vergleich  sehr  kläglich  aus.  So  wenn  Freiligrath  „Mähnen  durch  die  Büsche 
flattern"  lässt,  und  nicht  ahnt,  dass  der  Leopard  ein  mähnenloses  Tier  ist ;  oder  wenn  von  den  ungeheuren 
Fleischstücken  gesprochen  wird,  welche  eine  Riesenschlange  einem  Tieger  herausreisst,  während  doch 
bekannt  genug  ist,  dass  Schlangen  gar  keine  Zähne  zum  Abbeissen  haben.  Und  diese  Unkenntnis  der  Natur 
geht  bis  in  unsere  Fabeldicbtungen  hinein.  Man  kann  da  bei  Babrios  das  feinste  Verständnis  des  Charakters 
der  einzelnen  Tiere  nachweisen;  und  wenn  ihnen  die  menschliche  Sprache  gegeben  wird,  so  heisst  das  nur, 
die  Art  der  tierischen  Mitteilung  ist  in  die  menschliche  Sprache  übersetzt.  So  wohnt  denn  jenen 
kleinen  humoristischen  Erzählungen  ein  eigentümlicher  Reiz  inne.  Aber  wie  verkehrt  da  auch  wieder  die 
neueren  Dichter,  bei  denen  sich  z.  B.  „Ochs  und  Esel  beim  Spaziergang  stritten  um  die  Wette,  wer  die 
meiste  Weisheit  hätte",  und  so  sehr  gewöhnlich  die  Tiere  nicht  eingeführt  werden  in  dem  ihnen  eigentüm- 
lichen Wesen.  Und  nun  gar  erst,  wollte  man  die  läppischen  Phantasien  so  vieler  moderner  Dichter  —  denen 
im  klassischen  Altertume  nichts  zur  Seite  steht  —  durch  Bilder  festhalten:  wie  oft  würde  man  auf  reine 
Unmöglichkeiten  stossen,  wie  oft  auch  den  reinen  Blödsinn,  wenn  nicht  etwas  schlimmeres  erhalten.  Wenn 
Heine  z.  B.  behauptet,  er  habe  so  oft  die  steinernen  Stiege  geküsst,  die  „ihr"  Fuss  betreten  habe :  so  denke 
man  sich  doch  nur  einmal  einen  Mann  abgebildet,  wie  er  an  der  Strasse  steinerne  Tritten  küsst!  Oder 
man  denke  an  denselben  Heine,  wie  er  die  heisse  Stirn  im  nassen  Sande  des  Nordseestrandes  kühlt.  Fordert 
das  nicht  geradezu  auf,  mit  einem  Rohrstockstreiche  den  Menschen  zur  Besinnung  zu  bringen,  oder  mit 
einem  Eimer  Wasser?  Und  nun  gar,  wenn  Heine  abgebildet  wird,  wie  er  Liebeseier  brütet  und  die  schon  aus- 
gebrochenen Küchlein  um  ihn  herum  pipen:  gäbe  das  etwas  anderes  als  ein  Bild  zu  den  „Musenklängen 
aus  Deutschlands  Leierkasten?" 

Das  aber  soll  unsere  Jugend  auf  dem  Gymnasium  lernen,  die  grossen  Geister  des  Altertums  zu 
verstehen,  in  ihre  unübertrefflichen  Werke  sich  zu  vertiefen,  um  gegenüber  moderner  Zerfahrenheit  die 
ewig  schönen  Typen  der  alten  Welt  vor  Augen  zu  haben,  nicht  aber  sich  im  Zerstören  der  herrlichen 
Werke  zu  üben,  wie  es  Vandalen  nur  geziemen  könnte.  Und  wenn  von  unsern  Universitäten  erst  wieder 
dies  Streben  ausgehn  wird ;  wenn  man  nicht  mehr  üben  wird,  an  den  schönsten  Werken  des  Altertums  eine 


dilettantische  Kritik  in  Aasfübrang  za  bringen :  dann  wird  ein  festes  Bollwerk  gegen  den  alles  öberäntenden 
Materialismas  gewonnen  werden;  dann  werden  der  Staat  und  die  Religion  ihre  wohlgerösteten  Kämpen 
empfangen,  die  ihnen  verhelfen  können  zum  Siege  über  die  finstern  Mächte  der  Nacht,  die  auflösenden 
Kräfte,  die  nichts  nebr  bestehen  lassen  wollen  ausser  der  Willkür  des  Einzelnen  and  der  glänzenden 
Redewendung. 

Und  die  klassischen  Wissenschaften  müssen  sich  rüsten,  diesen  Kampf  aufzunehmen.  Sie  müssen 
sich  mit  fruchtbaren  urd  der  höheren  Bildung  dienenden  Aufgaben  beschäftigen,  nicht  aber  die  gelehrte 
Finsternis  wieder  herbeirufen  durch  so  klägliche  Änderungen,  wodurch  man  die  Texte  der  alten  Schrift- 
steller jetzt  immer  schwerer  lesbar  macht.  Ich  meine  z.  B.  dass  man  i  und  j,  ebenso  u  und  v  wieder 
gleich  schreibt,  dass  man  eine  allen  Sinn  verdunkelnde,  ein  Lesen  mit  Gefühl  fast  unmöglich  machende 
Interpunktion  einführt;  und  ebenso  die  Dehnungszeichen,  durch  welche  so  mancher  Satz  auf  den  Fleck 
verständlich  wird,  abgeschafft  hat  u.  s.  w.,  u.  s.  w. 

Möge  man  wieder  zu  dem  wahren  Urquell  der  klassischen  Zeit,  zu  Homer  zurückkommen;  mit 
heiliger  Erfurcht  seine  Gedichte  ergründen,  und  sie  nicht  missbrauchen  zu  einer  ganz  fruchtlosen  Afterkritik. 
So  wird  die  heranwachsende  Jagen  d  wieder  eine  höhere  geistige  Weihe  erhalten ;  die  klassische  Philologie 
aber  wird  vor  dem  gänzlichen  Verfalle  bewahrt  werden,  der  sie  bald  von  der  Bildfläche  der  Unterrichts- 
gegenstände wegfegen  würde.  —  Wenn  ich  diesen  oder  jenen  in  dieser  Richtung  geweckt  haben  sollte,  so 
ist  der  Zweck  dieser  Zeilen,    die  in  einem  Gusse  am  heutigen  Tage  niedergeschrieben  wurden,  erfüllt. 

Hagen  i.  W.,  den  15.  Januar  1882. 

Dr.  J.  H.  Heinr.  Schmidt.